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Zeitzeugen-Bericht von Jürgen Ruszkowski (Jahrgang 1935)

Vom 11. bis 16. April 1949, in der Karwoche, findet auf dem Michaelshof in Rostock-Gehlsdorf eine Rüstzeit der "Dobbertiner Bruderschaft" statt.  Der mecklenburgische Landesjugendpastor Wellingerhof hatte alle jungen Männer eingeladen, die sich mit dem Gedanken trugen, als Pastoren oder in anderen kirchlichen Berufen in den hauptamtlichen Dienst der Kirche zu treten. In meiner damaligen pubertären Phase will ich Missionar werden.

Über den Diakon Karl Fischer erhalte ich auch die Einladung des mecklenburgischen Landesjugendpfarramtes in Schwerin zu einer Freizeit: Zusammen mit Hans Gottschalk, Klaus-Dieter Schröder und Joachim Albrecht aus Grevesmühlen fahre ich einen Tag nach meiner Konfirmation am Sonntag Palmarum, dem 10. April 1949,  zu dieser Rüstzeit.  Ich bin einer der jüngsten Teilnehmer.  

Aus dem gehaltvollen Programm: Morgendlicher Betkreis, tägliche "Morgenwache" (Andacht),  jeweils von einem der älteren Teilnehmer gehalten, Bibelarbeiten über Passionstexte aus dem Johannesevangelium, Vorträge: z.B. Professor Dr. Dörner: "Glauben an Jesus Christus in der Gegenwart", Oberkirchenrat de Boer: "Wie finde ich den Weg zu Jesus Christus?", Landesbischof Dr. Beste: "Die Aufgaben der Kirche", Pastor Stark, Leiter des Michaelshofes, über "Die Innere Mission und Rundgang über den Michaelshof, oder auch über "Moderne Biologie" oder "Moderne Physik" von jeweils einem älteren Teilnehmer, Vorlesen eines Passionsspiels, gemeinsames Singen, Teilnahme an der Bach’schen Matthäuspassion in der Rostocker Marienkirche, Besuch der theologischen Fakultät der Universität Rostock, tägliche Abendandacht.  Diese Woche in der Gemeinschaft bewusster junger Christen, darunter eine ganze Reihe mecklenburgischer Pastorensöhne, hat mich stark beeindruckt und geprägt.

Besondere Erlebnisse sind die Landesjugendtage in Güstrow, zu denen Tausende junger Leute aus ganz Mecklenburg jährlich zusammenkommen, so am 19. Juni 1949.  Von Grevesmühlen aus fahren wir in einer Gruppe mit einem Lastkraftwagen um 6 Uhr früh ab, um gegen 8.50 Uhr in Güstrow zu sein.  Gottesdienste in Dom und Pfarrkirche mit Predigten bekannter Theologen aus ganz Deutschland, gemeinsames Singen im Garten der Superintendentur, Verkündigungsspiel auf dem Domplatz: "Glaube und Heimat".  1950 findet wieder ein Landesjugendtag in Güstrow statt, an dem wir mit etwa 30 Jungen und Mädchen aus Grevesmühlen teilnehmen.

Mehrere Tagestreffen der Dobbertiner Bruderschaft im Gemeindehaus der Schelfkirche in der Puschkinstraße in Schwerin vertiefen die Erlebnisse der Karwochen-Freizeiten, so am Buß- und Bettag 1949 (16. November) mit Teilnahme am Gottesdienst in der Schelfkirche, Bericht von Pastor Voß über die "Kessiner Bruderschaft" und Teilname am Aussprachenachmittag der Schweriner Jugendkreise im Wichernsaal in der Apothekerstraße. - Ein zweites solches Treffen findet am 23.12.50 von 9 bis 18 Uhr statt mit Morgenwache, Bibelarbeit, Vortrag des Landesbischofs Beste über "Probleme unserer Kirche in der Gegenwart" und Berichten von Theologiestudenten.

Vom 3. bis 8. April 1950 weile ich zum zweiten Male zusammen mit Hans Gottschalk zu einer Karwochen-Rüstzeit der Dobbertiner Bruderschaft für kirchlichen Berufsnachwuchs auf dem Michaelshof in Rostock-Gehlsdorf.

Von Oktober 1950 bis Mai 1953 lebe ich in Schwerin und durchlaufe dort eine Ausbildung bei der Deutschen Post.  Ich lebe im Postlehrlingsheim. Unser Lehrlingsheim in Schwerin-Görries war früher einmal Dienstvilla des Fliegerhorstkommandanten und liegt abseits, ruhig und idyllisch am Ufer des Ostorfer Sees. Mit einem guten Dutzend Lehrlingen wohnen wir hier zusammen mit dem Heimleiterehepaar Trulson.  Fast alle Heimbewohner werden als Fernmeldemonteure ("Strippenzieher") ausgebildet.  Nur Ulrich Fentzahn und ich sind "Paketheber".  Nach einigen Tagen ziehe ich mit Lothar Goeritz zusammen in ein Zimmer.  Der dritte Bewohner unserer Bude ist Dieter Vierus, überzeugter FDJler und Materialist. 

Ich muss mich erst in die neuen Verhältnisse einleben.  Die ersten Tage bei der Post sind hart für mich.  In dieser ersten Zeit bin ich recht niedergeschlagen, aber bald habe ich das Tief überwunden. - Zu Beginn der Ausbildung werde ich zur Schweigepflicht vergattert: Ich habe das Postgeheimnis zu wahren und besonders darf niemandem etwas über die Zensurabteilung erzählt werden, die auch für uns Postbedienstete streng tabu ist.  Alle Post kommt sofort nach der Kastenleerung vor dem Stempeln zu der in einem Seitenflügel untergebrachten von der Stasi verwalteten Zensurstelle.  Wir legen die Säcke dort vor die Tür und bekommen sie irgendwann wieder zurück. - In unserem Jahrgang sind wir ungefähr 20 Lehrlinge, Jungen und Mädchen in meinem Alter.  Zweimal wöchentlich haben wir im Postamt Fachunterricht und allgemeinbildende Fächer in der nahegelegenen Kaufmännischen Berufsschule.  Den Fachunterricht erteilt unser pädagogisch sehr befähigter Ausbildungsleiter Hansen.  In Fachkunde ist die "Allgemeine Dienstanweisung" Grundlage des Unterrichts.  In "Fachgeographie" lernen wir die Stationen der Eisenbahnstrecken ganz Deutschlands auswendig: im mecklenburgischen Bereich jede Station, im entfernteren Deutschland alle größeren Städte.  In der allgemeinen Geographie werden die vorhandenen Schulkenntnisse weltweit gründlich aufgefrischt und vertieft.  Die praktische Ausbildung erfolgt in unterschiedlichen Abteilungen.  Zunächst bin ich in der Wertabteilung, in der Einschreiben und Wertbriefe gesondert lückenlos nachgewiesen werden, später in der Zustellung, der Briefsortierung, bei der Bahnpost und im Schalterdienst beschäftigt.  

Die Werktage verbringe ich in Schwerin.  Morgens versorge ich mich im Lehrlingsheim selber mit Frühstück.  Mittag- und Abendessen bekomme ich in der Werkküche der Post. Beim Postamt Schwerin durchlaufe ich eine durch Krankheit unterbrochene zweijährige Ausbildung

Fast jeden Morgen fahre ich früher los, entweder per Fahrrad oder eine Station mit dem Zug, um vor der Arbeit um 7 Uhr im Dom an der "Morgenwache", einer zehnminütigen Andacht, teilzunehmen, die wir Jugendlichen der Jungen Gemeinde umschichtig selber stehend vor dem Altar halten.  Zum Abschluss singen wir immer den Choral "Erhalt uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten, es ist ja doch kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn Du unser Gott alleine." 

Am Wochenende fahre ich in der Regel nach Grevesmühlen, wo ich sonnabends meistens am Posaunenüben teilnehme und mich ansonsten viel mit Hans Gottschalk treffe, der in Grevesmühlen die Oberschule besucht.  

Nachdem wir gut ein Jahr lang in Görries im Lehrlingsheim gewohnt hatten, ziehen die Fernmeldelehrlinge in ein neues Heim um und es kommen im neuen Lehrjahr nur noch Mädchen zur Gelben Post, auch zu uns beiden verbliebenen männlichen Postlehrlingen ins Lehrlingsheim.  Einige Zeit später beansprucht die sowjetische Rote Armee unser Haus in Görries und stellt uns statt dessen in der Schlossgartenallee, wo sie ein großes Areal von beschlagnahmten Villen räumt, ein Gebäude zur Verfügung.  Hier wohnen wir noch schöner, weil dichter an der Stadt. Vor unserem Hause vorbei führt die Straßenbahnlinie zur Innenstadt.  Obwohl eine Fahrt nur 20 Pfennig kostet, fahre ich bei gutem Wetter immer mit dem Fahrrad.

Während meines Aufenthaltes in Schwerin nehme ich weiterhin rege am Leben der Jungen Gemeinde teil. Während meiner Zeit in Schwerin erlebe ich in der vollbesetzten Schelfkirche Albert Schweitzer anlässlich eines Vortrages live. Zu dieser Zeit lese ich mit Begeisterung und großem Gewinn das uns von P.W. empfohlene Buch "Las Casas vor Karl dem V.", in dem von dem engagierten Eintreten des sensiblen spanischen Dominikanermönches für die Rechte der indianischen Völker und gegen die Unterdrückung und Ausrottung durch die Konquistadoren berichtet wird.  Auch Hans-Otto Wölbers neunteilige Reihe "Studienblätter für evangelische Jugendführung" arbeite ich mit Interesse durch, ohne zu ahnen, dass er später mal mein Dozent sein wird.  Regelmäßig beziehe und lese ich auch die Zeitschrift der Jungen Gemeinde "Die Stafette".

Mit vielen Jugendlichen aus Schwerin und einigen Freunden aus Grevesmühlen zusammen nehme ich im Juli 1951 am legendären Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin teil, der noch gesamtdeutsch über die Sektorengrenzen hinweg gefeiert wird.  Es ist ein überwältigendes Ereignis. Wir Mecklenburger übernachten in einem Zeltlager im Grunewald im Jagen 61 und fahren täglich mit der S-Bahn zu den großen Veranstaltungen in die Stadt.  Berlin hat schon viel erlebt, aber so etwas noch nicht:  Überall, wo größere Menschenmengen versammelt sind, wo gewartet werden muss, auf U- und S-Bahnhöfen, auf Straßen und Plätzen, werden spontan Choräle und Kanons gesungen.  Der Geist und die Atmosphäre dieses ersten Berliner Kirchentages war einmalig.  

Am Freitag, dem 14. September 1951, notiere ich rückblickend ins Tagebuch: "Der Kirchentag war ein einzigartiges Erlebnis.  Man kann sich in einen Israeliten der Zeit Christi versetzen, der zusammen mit vielen tausend Gleichgesinnten zu Festzeiten  nach Jerusalem zum Tempel pilgerte.  Leider klappte die geplante Radfahrt nicht, da ich in der Woche vorher eine Panne am Rad hatte und kein Fahrradmonteur die Reparatur annahm.  So fuhr ich mit dem Sonderzug der Deutschen Reichsbahn und konnte auch mein Tenorhorn mitnehmen, was ich nicht bereue.  Durch den Dienst als Bläser konnte ich zwar manche Veranstaltung nicht besuchen, zu der ich sonst gerne gegangen wäre, dafür hatte ich beim Blasen in den großen Chören segensreiche Erlebnisse.  Besonders schöne Erinnerungen habe ich an die Jugendkundgebung im Walter-Ulbricht-Stadion und an den Vortrag von Pastor Wilhelm Busch in einer der Messehallen am Funkturm.  Von der Abschlusskundgebung hatte ich leider nicht so viel, da die Posaunenbläser in drei riesige Chöre aufgeteilt waren und mein Chor auf dem Maifeld blies, während die Kundgebung im überfüllten Olympiastadion stattfand und per Lautsprecher zu uns übertragen wurde."

Während meiner frühen Jugend sind vier hauptamtliche Kirchenmänner, alle im Alter um die 30 herum, für mich prägend: der bereits erwähnte Friedrich Franz Wellingerhof, damals gängige Kurzbezeichnung P.W., der als Landesjugendpastor für ganz Mecklenburg, aber besonders auch im Stadtbereich Schwerin segensreich wirkt.  -  Sein Vater war Diakon des Stephanstiftes Hannover und offenbar um 1912 herum Hausvater der Herberge zur Heimat in der Hartestraße 21 in Rostock, gleichzeitig mit dem dortigen Lesezimmer die erste Seemannsmissionsstation in Rostock. 

Von herausragender Bedeutung für mich als Leitbild ist Diakon Gerhard Luckow, der Anfang der 50er Jahre das Amt des Landesjugendwarts für Mecklenburg ausfüllt, später in Güstrow ein Lehrlingsheim übernimmt, dann in Berlin für die Innere Mission wirkt und zuletzt ein großes Heim für Behinderte in Templin leitet.  In einer Patengemeinde in Ostberlin, die ich später von Soest aus betreue, wohnt auch Diakon Gerhard Luckow, den ich in Berlin mit Monica zusammen auch einmal besuche. Er arbeitet in den 60er Jahren in Ostberlin für das Diakonische Werk.  Jahrelang verwalte ich für ihn ein Westgeldkonto und schicke ihm davon nach Wunsch und Bedarf Kleidung und Haushaltsgeräte für seine große Familie.  Später geht Luckow als Leiter des Waldhofes, einer Behinderteneinrichtung der Diakonie, nach Templin.  Zu der Zeit habe ich aber kaum noch Kontakt zu ihm.  

Einige Monate nach seinem Tode schreibt mir seine Witwe Helga aus Templin:  "... Es ist nun schon viele Monate her, seit wir meinen Mann auf dem Friedhof des Waldhofes begruben.  Sie wissen vielleicht, dass mein Mann von 1971 bis zu seinem ersten Herzinfarkt im Jahre 1980 den Waldhof leitete, eine psychiatrische Pflege- und Fördereinrichtung mit 200 Betten.  Da Sie meinen Mann kannten, können Sie sich sicher vorstellen, wie er diese Arbeit getan hat:  -Entweder Ihr gebt mir Geld und Möglichkeit zu bauen oder Ihr macht das Haus zu!-  So hieß es 1971.  Es waren gute und harte Jahre.  Die Arbeit meines Mannes hat ihre Spuren hinterlassen.  In den letzten Jahren nach seiner Invalidisierung hat er endlich das tun können, was ihm nie möglich war und ihm doch so sehr am Herzen lag: Er konnte sich um den einzelnen Heimbewohner kümmern, der zu ihm kam ......"

Zwei weitere Neinstedter Diakone sind zu nennen:  Eberhard Brösel, Stadtjugendwart für Schwerin, der etwa 1952 plötzlich Hals über Kopf in den Westen fliehen muss, nachdem er vier Monate lang wöchentlich im Arsenal am Schweriner Pfaffenteich von Stasioffizieren verhört und bedroht worden war.  Er leitet in Südwestdeutschland zunächst ein Heim für Fremdenlegionsflüchtlinge und arbeitet jahrzehntelang im Schwarzwald führend in der christlichen Jugenddorfbewegung, zuletzt 24 Jahre in Altensteig, wo der Vater von 7 Kindern und Opa von 10 Enkeln jetzt seinen Ruhestand verbringt.  Er wird in Schwerin als Stadtjugendwart von Bernhard Kränz abgelöst, der später als Gemeindediakon zu P.W. nach Gnoien geht und darnach eine Pfarrstelle in dem kleinen Dorf Lübsee zwischen Schönberg und Grevesmühlen übernimmt, wo ich ihn in den 60er Jahren auch mal zusammen mit meiner Frau Monica besuche.

Während der Rüstzeiten der Dobbertiner Bruderschaft in Rostock-Gehlsdorf für Jungen, die sich mit dem Gedanken tragen, einen kirchlichen Beruf zu ergreifen, begegne ich das erstemal Gerhard Luckow, der mir als Jugendlicher Identifikationsfigur wird, den ich später als meinen geistlichen Vater betrachte und der den Wunsch in mir wachsen lässt, selber Diakon zu werden.

In Mühlen-Eichsen, einem kleinen Dorf zwischen Grevesmühlen und Schwerin erlebe ich als 14jähriger "Knabe" in einer Gruppe Gleichaltriger einige Monate nach meiner Konfirmation vom 29.7. bis 4.8.1949 eine Freizeit unter Leitung Gerhard Luckows und seines Assistenten Hans Reinke (Dobbertiner Bruderschaft) im Pfarrhaus des seinerzeit dort amtierenden kinderreichen Pastors Hannes Lietz (später Propst in Grevesmühlen). Die Freizeitlosung heißt: "Sieger müssen bei Christus sein", nach dem Refrain des in dieser Freizeit erlernten und immer wieder  gesungenen Liedes "Heiß das Blut, das die Adern durchrauscht, kalt der Wind, der das Fahnentuch bauscht, heiß oder kalt, ja oder nein, niemals wollen wir lauwarm sein. - Fest den Blick in das Dunkel gespannt.  Fest das Herz und die Nacht ist gebannt!  Heiß oder kalt, ja oder nein!  Schlagt dem Teufel die Türe ein! - Halber Wille ist ganzer Verzicht.  Halbe Menschen gefallen Gott nicht.  Heiß oder kalt, ja oder nein!  Sieger müssen bei Christus sein."  Die Lieder dieser Nachkriegs-Jugendbewegung sind oft schmissig und strotzen von kämpferischen Begriffen.  Oft werden sie im Marschrhythmus gesungen.  Und die Kanons!  Immer und überall werden Kanons gesungen, oft mit sehr schönen seelsorgerischen Texten und herrlichen Melodien: "Und ob das Herz auch klagt, ausharr ich unverzagt, wer Gottes Pfad gewagt, trägt still sein Kreuz",  "Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott schauen" oder "Dona nobis pacem". Die Lieder, das gemeinsame Singen, die Gemeinschaft bewirken mehr als alle Predigten und Vorträge.  

Wir schlafen auf dem Heuboden des Pfarrhauses und halten im Gemeinderaum unsere Bibelarbeiten, Singstunden und sonstigen Veranstaltungen ab.  Diese Begegnung mit einem engagierten Diakon ist für mich stark prägend für meinen späteren Berufswunsch.  Ein markantes Ereignis dieser Woche ist für uns Halbstarke ein besonderes Abenteuer und sollte für Luckow noch ein Nachspiel haben: Vom damaligen Bischof Niklot Beste bekommt Luckow eine offizielle disziplinarische "Zigarre", weil er am späten Abend des 31.7.1949 in der Dämmerung mit uns ins benachbarte, einige Kilometer entfernte Dorf Cramon zieht, wo eine Mädchenfreizeitgruppe ebenfalls in der Pfarrscheune auf Heu und Stroh gerade im ersten Schlaf ruht.  Mit einem schauerlichen Geheul rund um die Scheune bringen wir die jungen Damen zu mitternächtlicher Stunde nach Luckows Aktionsplan in größte Angst und Panik.  Die Mentalität der Zeit ist wohl noch stark geprägt von Verhaltensmustern der romantischen Jugendbewegung und auch noch von den rauen Sitten der gerade erst zu Ende gegangenen Epoche der Hitlerjugend mit Sinn für derlei grobe Scherze.  Darauf gibt es seitens der Freizeitleitung der Mädchen eine Beschwerde bei der Landeskirchenleitung und in Folge die Zitierung Luckows zum Bischof.

In der Karwoche 1951 nehme ich vom 19. bis 24. März an einer Rüstzeit in Toitenwinkel bei Rostock für Jugendliche teil, die als Diakone, Katecheten oder sonst wie als Nicht-Volltheologen hauptberuflich in den kirchlichen Dienst zu treten beabsichtigen.  Auch diese Freizeit wird von Diakon Gerhard Luckow geleitet. Toitenwinkel ist zu der Zeit noch ein von Gehlsdorf etwas entfernt liegendes einsames Dorf in weiter Flur.  Überseehafen und Autobahn gibt es noch nicht.  An der schönen alten gotischen Dorfkirche amtiert Pastor Bahr, der mit einigen Vorträgen und Gesprächen aktiv an unserer Rüstzeit teilnimmt, so über "Das 6. Gebot" und zum Thema "Warum lutherisch?": sola fide: allein aus dem Glauben! - sola scriptura: allein aus der Schrift! - nur die Kirche darf sich lutherisch nennen, die sich alleine auf die Schrift stützt! - sowie über "Apologetik"  und "Mein Dienst als Pastor".  Luckow referiert zum Thema: "Mein Dienst als Diakon": Der angehende Diakon hat drei Entscheidungen zu treffen: 1. Christus ja oder nein, 2. den bisherigen Beruf aufgeben, 3. mit der Kirche als menschlicher Institution fertig werden.  

Luckow erzählt uns, wie er selber zu der Entscheidung kommt, Diakon zu werden.  Er war begeisterter deutscher Soldat mit patriotischem Kampfgeist für den "Endsieg".  Der Zusammenbruch Deutschlands zerstörte alle seine Ideale und Hoffnungen.  In der Gefangenschaft erkrankte er lebensbedrohlich.  In dieser Situation betete er und legte ein Gelöbnis ab: "Lieber Gott, wenn Du mich hier wieder lebendig herausbringst, will ich Dir lebenslang dienen!"  Als er sich später erkundigte, wie ein solches Dienen wohl möglich sei, riet man ihm, Diakon zu werden.  So kam er nach Neinstedt und pflegte geistig Behinderte.  Diakonie sei wörtlich übersetzt: Dienen durch den Staub, Sklavendienst.  Er macht es uns an einem Beispiel klar, das er erlebt hat:  In Neinstedt sei eine Toilette verstopft gewesen.  Die stinkende Kloake habe darin bis zum Rand gestanden.  Er sollte sie wieder gangbar machen.  Sein Vorsteher, Pastor Knolle, habe von ihm verlangt, mit seinem Arm bis zum Ellenbogen da hineinzugreifen, um die Verstopfung zu beheben.  Als er sich nach einigem inneren Widerstand dazu durchgerungen habe, habe er gewusst, dass er allen Versuchungen standgehalten habe, seinen Weg der Diakonie, den Dienst durch Staub und Kot, aufzugeben.  Dieses Beispiel wird mich selber später in meiner eigenen Diakonenausbildung noch oft beflügeln, Versuchungen im Dienst zu widerstehen. -

 Weitere Themen: "Stegreifspiel", "Geschichte der Diakonie" an drei Tagen: 1. Biblische Grundlagen, 2. Entwicklung des Diakonenamtes in der Kirchengeschichte, 3. Diakonie in den letzten 100 Jahren“. - Wir haben Diakonenschüler vom Michaelshof zu Gast und wandern nach Gehlsdorf, um das dortige Werk der Inneren Mission zu besichtigen.  Die täglichen Bibelarbeiten befassen sich mit Passionstexten des Johannes- (13, 1-17) und des Lukasevangeliums, Kapitel 23.

Es ist Mitte Mai 1953.  Ende Juni soll die Lehrabschlussprüfung bei der Post stattfinden.  Da kommt ein neues, nicht eingeplantes Hindernis: Der Kirchenkampf spitzt sich zu.  Die evangelische Jugend innerhalb der DDR wird vom atheistischen Staat als Feind betrachtet und soll ausgeschaltet werden.  Unsere Treffen, die stark bibelzentriert stattfinden, werden von Stasileuten besucht und beschattet.  Man will uns mürbe machen. In der FDJ-Zeitung "Junge Welt", aber auch in der "Ostsee-Zeitung" im Bezirk Rostock erscheinen Anfang Mai 1953 fast täglich Hetzartikel gegen die Junge Gemeinde, gegen Pastoren und Hausväter diakonischer Einrichtungen.  

In Nr. 106 der "Ostsee-Zeitung" vom 7. Mai 1953 hetzt man gegen den Grevesmühlener Pastor Lietz.  In dem Zeitungsartikel wird die Junge Gemeinde als "Spionageorganisation" und "faschistische Mordorganisation" bezeichnet.  Auf derselben Seite dieser Zeitung heißt es unter der Überschrift: "Jugendliche wollen sich nicht missbrauchen lassen: Grevesmühlen.  Immer mehr erkennen die jungen Menschen, dass sie in der Spionageorganisation "Junge Gemeinde" nichts zu suchen haben.  So erklärt uns die Oberschülerin Erika Beier: --Ich habe in der "Jungen Welt" gelesen und erkläre hiermit, dass ich aus der Jungen Gemeinde austrete.--  Die Jugendfreundin Christa Hecht bemerkt: --Ich bin seit 1952 in der Jungen Gemeinde gewesen.  Nachdem ich ihre schändliche Arbeit zur Kenntnis genommen habe, erkläre ich hiermit meinen Austritt aus der Jungen Gemeinde.  Ähnlich äußerten sich ..."  Und so geht es weiter. Solche erpressten Abwendungsbekenntnisse erscheinen fast täglich in den DDR-Zeitungen.  Auf dem flachen Lande und in den kleineren Städten werden zuerst die christlichen Schüler aus den Oberschulen verwiesen, soweit sie nicht bereit sind, sich öffentlich von der Kirche loszusagen.  Mein Freund Hans Gottschalk ist bereits kurz vor dem Abitur aus der Oberschule entlassen worden.  

Noch hält sich die Betriebsleitung bei der Deutschen Post in Schwerin zurück, doch bald wächst der Druck auf sie und unseren Ausbildern bleibt keine Wahl:  Man muss etwas gegen uns unternehmen.  Mehrere Kolleginnen und ich, von denen bekannt ist, dass wir uns zur Jungen Gemeinde halten, werden am 13. Mai in Anwesenheit der Ausbilder Hansen, Gerth und Meltz und des Lehrlingsheimleiters Trulson zu einer Besprechung in den Kulturraum des Postamtes zusammengerufen und aufgefordert, eine Resolution zu unterschreiben, in der wir die Junge Gemeinde als "Tarnorganisation der westlichen Imperialisten" erkennen und uns verpflichten, "deren Machenschaften zu verabscheuen und zu verurteilen".  Solche Resolutionen aus Schulen und Betrieben findet man ja zur Zeit fast täglich in den Zeitungen.  Die Kolleginnen bringt man alle dazu, zu unterschreiben.  Ich weigere mich.  

Damit ist meine Zukunft besiegelt!  Eine berufliche Zukunft bei der Post gibt es nicht mehr.  Die will ich ohnehin nicht, denn für mich steht sowieso fest, dass ich Diakon werden will.  Dafür benötigte ich jedoch zuvor eine abgeschlossene Berufsausbildung.  Nach einer schweren Rippenfellentzündung hatte ich mir eine Lymphdrüsentuberkulose zugezogen, gegen die es in der DDR keine Medikamente gab.  Aber mit meiner Erkrankung ist mir auch die Diakonenausbildung verbaut.  Für uns Christen in der DDR gilt die Devise: Trotz Verfolgung durch die staatlichen Organe: Ausharren!  Keine Flucht in den Westen.  Aber welche Perspektiven habe ich in meinem Fall?  Ich wollte nach dem Abschluss der Lehre bei der Post nach Neinstedt im Harz in die Diakonenausbildung gehen, aber die Neinstedter Anstalten sind kurz zuvor verstaatlicht worden.  Hinzu kommt, dass mir bekannt geworden ist, dass im Westen die ersten erfolgversprechenden Medikamente gegen die Tbc auf den Markt gekommen sind.  

Ich fahre sofort nach Grevesmühlen, um die Lage mit meinen Eltern zu besprechen.  Mein Vater ist empört.  Er verlangt, dass ich mich anpasse, unterschreibe.  Er ist persönlicher Kraftfahrer des Genossen Vorsitzenden des Rates des Kreises (früher sagte man Landrat). Dieser hatte ihn ohnehin schon mit der kritischen Bemerkung konfrontiert, es sei für einen Parteigenossen ehrenrührig, einen "Kugelkreuzler" als Sohn zu haben.  "Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen."  Das Familienklima ist gespannt.  Mutter rät mir zu, in den Westen zu gehen.  Ich habe innerhalb weniger Stunden einen inneren Kampf auszufechten.  

Am frühen Morgen des 14. Mai 1953 steige ich mit nur einer Aktentasche als unauffälliges Gepäck in Grevesmühlen in den Zug, um auf dem Umweg über Neubrandenburg nach Berlin zu fahren.  Die Zonengrenze ist undurchlässig.  Nur das Schlupfloch Berlin ist noch geblieben.  Dort kann man noch ungehindert mit der S-Bahn oder zu Fuß die Sektorengrenze überqueren.  Aber rings um Groß-Berlin herum hat die Volkspolizei einen Kontrollring gelegt.  Viele fluchtverdächtige Reisende werden aus den Zügen geholt und nach Verhören zurückgeschickt.  Falls es in meinem Falle zu einer Kontrolle kommen sollte, will ich zu einer Familienfeier, einer "Silberhochzeit" zu Verwandten, zur Tante Toni Seth, in Berlin-Treptow.  Ein "Geschenk" habe ich in der Aktentasche, sonst nur Wasch- und Rasierzeug, nichts was auf eine Flucht hindeuten könnte.  

Ich komme aber ungehindert nach Berlin hinein und mit Herzklopfen mit der S-Bahn auch in den Westsektor.  Hier begebe ich mich nach Tempelhof, wo seit Jahren Ulla Schiele, geborene Feilke, mit ihrem Mann wohnt.  Dort bleibe ich die erste Nacht.  Am nächsten Morgen suche ich die kirchliche Beratungsstelle für junge Flüchtlinge aus der DDR auf, deren Adresse ich im Kopf habe.  Ich werde aufgefordert, mir mein Vorhaben doch noch einmal gründlich zu überlegen, es könnten doch nicht alle weglaufen, was solle dann aus der Kirche in der DDR werden.  Dafür hatte ich die Reise nach Berlin nun doch nicht auf mich genommen.  Ich habe mich fest entschieden und bin mir meiner Sache sicher.  So nennt man mir die Anschrift der Kontaktbehörde.  In diesen Wochen und Monaten kommen täglich tausend oder gar mehrere tausend Menschen über Berlin in den Westen.  Ein großer Exodus blutet die DDR aus, bis Ulbricht am 13. August 1961 die Mauer bauen lässt.  Auf dem Messegelände am Funkturm sind in den großen Ausstellungshallen riesige Auffangbüros eingerichtet worden.  Ich kenne das Gelände noch vom Kirchentag in Berlin 1951 her.  Vor zwei Jahren war ich hier gewesen.  So beantrage ich nun die "Notaufnahme".  Ich bekomme einen "Laufzettel".  Es beginnt das Stempelsammeln: einer vom amerikanischen Dienst, der nächste vom britischen, der dritte vom französischen, der vierte von einer ärztlichen Dienststelle.  Ich werde Inhaber eines Gesundheitspasses für Flüchtlinge.  Die ärztliche Untersuchung ist gründlich und bewirkt sofort, dass ich in ein Krankenhaus nach Tegel eingewiesen werde. 

Während meines Aufenthaltes in Berlin werden in der DDR plötzlich die straff angezogenen Zügel wieder gelockert: Der "Neue Kurs" wird eingeläutet, gemäß dem Motto: Vom großen Bruder lernen.  So etwas gab es in den zwanziger Jahren auch bereits einmal in der Sowjetunion: Die NEP, die "Neue Ökonomische Politik".  Die Verfolgung der Kirche wird abgeblasen, einige Maßnahmen rückgängig gemacht.  Die von den Oberschulen verwiesenen christlichen Abiturienten können ihr Abitur nachholen.  War also meine Flucht umsonst?  Im Hinblick auf meine Heilungschancen durch die neuen Medikamente im Westen war mein Entschluss der einzig richtige.  So bleibe ich, bekomme einen provisorischen Personalausweis der Stadt Berlin und werde am 13. Juni 1953 mit anderen jungen Flüchtlingen von Berlin nach Hannover "ausgeflogen" und am selben Tage per Autobus in das Durchgangslager Sandbostel gebracht.