Zeitzeugen-Bericht von Jürgen Ruszkowski (Jahrgang 1935)
Vom 11. bis 16. April 1949,
in der Karwoche, findet auf dem Michaelshof in Rostock-Gehlsdorf
eine Rüstzeit der "Dobbertiner Bruderschaft" statt. Der
mecklenburgische Landesjugendpastor Wellingerhof hatte alle
jungen Männer eingeladen, die sich mit dem Gedanken trugen, als
Pastoren oder in anderen kirchlichen Berufen in den
hauptamtlichen Dienst der Kirche zu treten. In meiner damaligen
pubertären Phase will ich Missionar werden.
Über den Diakon Karl Fischer
erhalte ich auch die Einladung des mecklenburgischen
Landesjugendpfarramtes in Schwerin zu einer Freizeit: Zusammen
mit Hans Gottschalk, Klaus-Dieter Schröder und Joachim Albrecht
aus Grevesmühlen fahre ich einen Tag nach meiner Konfirmation am
Sonntag Palmarum, dem 10. April 1949, zu dieser Rüstzeit. Ich
bin einer der jüngsten Teilnehmer.
Aus dem gehaltvollen
Programm: Morgendlicher Betkreis, tägliche "Morgenwache"
(Andacht), jeweils von einem der älteren Teilnehmer gehalten,
Bibelarbeiten über Passionstexte aus dem Johannesevangelium,
Vorträge: z.B. Professor Dr. Dörner: "Glauben an Jesus Christus
in der Gegenwart", Oberkirchenrat de Boer: "Wie finde ich den
Weg zu Jesus Christus?", Landesbischof Dr. Beste: "Die Aufgaben
der Kirche", Pastor Stark, Leiter des Michaelshofes, über "Die
Innere Mission und Rundgang über den Michaelshof, oder auch über
"Moderne Biologie" oder "Moderne Physik" von jeweils einem
älteren Teilnehmer, Vorlesen eines Passionsspiels, gemeinsames
Singen, Teilnahme an der Bach’schen Matthäuspassion in der
Rostocker Marienkirche, Besuch der theologischen Fakultät der
Universität Rostock, tägliche Abendandacht. Diese Woche in der
Gemeinschaft bewusster junger Christen, darunter eine ganze
Reihe mecklenburgischer Pastorensöhne, hat mich stark
beeindruckt und geprägt.
Besondere Erlebnisse sind
die Landesjugendtage in Güstrow, zu denen Tausende junger Leute
aus ganz Mecklenburg jährlich zusammenkommen, so am 19. Juni
1949. Von Grevesmühlen aus fahren wir in einer Gruppe mit einem
Lastkraftwagen um 6 Uhr früh ab, um gegen 8.50 Uhr in Güstrow zu
sein. Gottesdienste in Dom und Pfarrkirche mit Predigten
bekannter Theologen aus ganz Deutschland, gemeinsames Singen im
Garten der Superintendentur, Verkündigungsspiel auf dem
Domplatz: "Glaube und Heimat". 1950 findet wieder ein
Landesjugendtag in Güstrow statt, an dem wir mit etwa 30 Jungen
und Mädchen aus Grevesmühlen teilnehmen.
Mehrere Tagestreffen der Dobbertiner Bruderschaft im
Gemeindehaus der Schelfkirche in der Puschkinstraße in Schwerin
vertiefen die Erlebnisse der Karwochen-Freizeiten, so am Buß-
und Bettag 1949 (16. November) mit Teilnahme am Gottesdienst in
der Schelfkirche, Bericht von Pastor Voß über die "Kessiner
Bruderschaft" und Teilname am Aussprachenachmittag der
Schweriner Jugendkreise im Wichernsaal in der Apothekerstraße. -
Ein zweites solches Treffen findet am 23.12.50 von 9 bis 18 Uhr
statt mit Morgenwache, Bibelarbeit, Vortrag des Landesbischofs
Beste über "Probleme unserer Kirche in der Gegenwart" und
Berichten von Theologiestudenten.
Vom 3. bis 8. April 1950 weile ich zum zweiten Male zusammen mit
Hans Gottschalk zu einer Karwochen-Rüstzeit der Dobbertiner
Bruderschaft für kirchlichen Berufsnachwuchs auf dem Michaelshof
in Rostock-Gehlsdorf.
Von Oktober 1950 bis Mai
1953 lebe ich in Schwerin und durchlaufe dort eine Ausbildung
bei der Deutschen Post. Ich lebe im Postlehrlingsheim. Unser
Lehrlingsheim in Schwerin-Görries war früher einmal Dienstvilla
des Fliegerhorstkommandanten und liegt abseits, ruhig und
idyllisch am Ufer des Ostorfer Sees. Mit einem guten Dutzend
Lehrlingen wohnen wir hier zusammen mit dem Heimleiterehepaar
Trulson. Fast alle Heimbewohner werden als Fernmeldemonteure
("Strippenzieher") ausgebildet. Nur Ulrich Fentzahn und ich
sind "Paketheber". Nach einigen Tagen ziehe ich mit Lothar
Goeritz zusammen in ein Zimmer. Der dritte Bewohner unserer
Bude ist Dieter Vierus, überzeugter FDJler und Materialist.
Ich muss mich erst in die
neuen Verhältnisse einleben. Die ersten Tage bei der Post sind
hart für mich. In dieser ersten Zeit bin ich recht
niedergeschlagen, aber bald habe ich das Tief überwunden. - Zu
Beginn der Ausbildung werde ich zur Schweigepflicht vergattert:
Ich habe das Postgeheimnis zu wahren und besonders darf
niemandem etwas über die Zensurabteilung erzählt werden, die
auch für uns Postbedienstete streng tabu ist. Alle Post kommt
sofort nach der Kastenleerung vor dem Stempeln zu der in einem
Seitenflügel untergebrachten von der Stasi verwalteten
Zensurstelle. Wir legen die Säcke dort vor die Tür und bekommen
sie irgendwann wieder zurück. - In unserem Jahrgang sind wir
ungefähr 20 Lehrlinge, Jungen und Mädchen in meinem Alter.
Zweimal wöchentlich haben wir im Postamt Fachunterricht und
allgemeinbildende Fächer in der nahegelegenen Kaufmännischen
Berufsschule. Den Fachunterricht erteilt unser pädagogisch sehr
befähigter Ausbildungsleiter Hansen. In Fachkunde ist die
"Allgemeine Dienstanweisung" Grundlage des Unterrichts. In
"Fachgeographie" lernen wir die Stationen der Eisenbahnstrecken
ganz Deutschlands auswendig: im mecklenburgischen Bereich jede
Station, im entfernteren Deutschland alle größeren Städte. In
der allgemeinen Geographie werden die vorhandenen
Schulkenntnisse weltweit gründlich aufgefrischt und vertieft.
Die praktische Ausbildung erfolgt in unterschiedlichen
Abteilungen. Zunächst bin ich in der Wertabteilung, in der
Einschreiben und Wertbriefe gesondert lückenlos nachgewiesen
werden, später in der Zustellung, der Briefsortierung, bei der
Bahnpost und im Schalterdienst beschäftigt.
Die Werktage verbringe ich
in Schwerin. Morgens versorge ich mich im Lehrlingsheim selber
mit Frühstück. Mittag- und Abendessen bekomme ich in der
Werkküche der Post. Beim Postamt Schwerin durchlaufe ich eine
durch Krankheit unterbrochene zweijährige Ausbildung
Fast jeden Morgen fahre ich
früher los, entweder per Fahrrad oder eine Station mit dem Zug,
um vor der Arbeit um 7 Uhr im Dom an der "Morgenwache", einer
zehnminütigen Andacht, teilzunehmen, die wir Jugendlichen der
Jungen Gemeinde umschichtig selber stehend vor dem Altar
halten. Zum Abschluss singen wir immer den Choral "Erhalt uns
Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten, es ist ja doch
kein andrer nicht, der für uns könnte streiten, denn Du unser
Gott alleine."
Am Wochenende fahre ich in
der Regel nach Grevesmühlen, wo ich sonnabends meistens am
Posaunenüben teilnehme und mich ansonsten viel mit Hans
Gottschalk treffe, der in Grevesmühlen die Oberschule besucht.
Nachdem wir gut ein Jahr
lang in Görries im Lehrlingsheim gewohnt hatten, ziehen die
Fernmeldelehrlinge in ein neues Heim um und es kommen im neuen
Lehrjahr nur noch Mädchen zur Gelben Post, auch zu uns beiden
verbliebenen männlichen Postlehrlingen ins
Lehrlingsheim. Einige Zeit später beansprucht die sowjetische
Rote Armee unser Haus in Görries und stellt uns statt dessen in
der Schlossgartenallee, wo sie ein großes Areal von
beschlagnahmten Villen räumt, ein Gebäude zur Verfügung. Hier
wohnen wir noch schöner, weil dichter an der Stadt. Vor unserem
Hause vorbei führt die Straßenbahnlinie zur Innenstadt. Obwohl
eine Fahrt nur 20 Pfennig kostet, fahre ich bei gutem Wetter
immer mit dem Fahrrad.
Während meines Aufenthaltes
in Schwerin nehme ich weiterhin rege am Leben der Jungen
Gemeinde teil. Während meiner Zeit in Schwerin erlebe ich in der
vollbesetzten Schelfkirche Albert Schweitzer anlässlich eines
Vortrages live. Zu dieser Zeit lese ich mit
Begeisterung und großem Gewinn das uns von P.W. empfohlene Buch
"Las Casas vor Karl dem V.", in dem von dem engagierten
Eintreten des sensiblen spanischen Dominikanermönches für die
Rechte der indianischen Völker und gegen die Unterdrückung und
Ausrottung durch die Konquistadoren berichtet wird. Auch
Hans-Otto Wölbers neunteilige Reihe "Studienblätter für
evangelische Jugendführung" arbeite ich mit Interesse durch,
ohne zu ahnen, dass er später mal mein Dozent sein wird.
Regelmäßig beziehe und lese ich auch die Zeitschrift der Jungen
Gemeinde "Die Stafette".
Mit vielen Jugendlichen aus
Schwerin und einigen Freunden aus Grevesmühlen zusammen nehme
ich im Juli 1951 am legendären Deutschen Evangelischen
Kirchentag in Berlin teil, der noch gesamtdeutsch über die
Sektorengrenzen hinweg gefeiert wird. Es ist ein
überwältigendes Ereignis. Wir Mecklenburger übernachten in einem
Zeltlager im Grunewald im Jagen 61 und fahren täglich mit der
S-Bahn zu den großen Veranstaltungen in die Stadt. Berlin hat
schon viel erlebt, aber so etwas noch nicht: Überall, wo
größere Menschenmengen versammelt sind, wo gewartet werden muss,
auf U- und S-Bahnhöfen, auf Straßen und Plätzen, werden spontan
Choräle und Kanons gesungen. Der Geist und die Atmosphäre
dieses ersten Berliner Kirchentages war einmalig.
Am Freitag, dem 14.
September 1951, notiere ich rückblickend ins Tagebuch: "Der
Kirchentag war ein einzigartiges Erlebnis. Man kann sich in
einen Israeliten der Zeit Christi versetzen, der zusammen mit
vielen tausend Gleichgesinnten zu Festzeiten nach Jerusalem zum
Tempel pilgerte. Leider klappte die geplante Radfahrt nicht, da
ich in der Woche vorher eine Panne am Rad hatte und kein
Fahrradmonteur die Reparatur annahm. So fuhr ich mit dem
Sonderzug der Deutschen Reichsbahn und konnte auch mein
Tenorhorn mitnehmen, was ich nicht bereue. Durch den Dienst als
Bläser konnte ich zwar manche Veranstaltung nicht besuchen, zu
der ich sonst gerne gegangen wäre, dafür hatte ich beim Blasen
in den großen Chören segensreiche Erlebnisse. Besonders schöne
Erinnerungen habe ich an die Jugendkundgebung im
Walter-Ulbricht-Stadion und an den Vortrag von Pastor Wilhelm
Busch in einer der Messehallen am Funkturm. Von der
Abschlusskundgebung hatte ich leider nicht so viel, da die
Posaunenbläser in drei riesige Chöre aufgeteilt waren und mein
Chor auf dem Maifeld blies, während die Kundgebung im
überfüllten Olympiastadion stattfand und per Lautsprecher zu uns
übertragen wurde."
Während meiner frühen Jugend sind vier hauptamtliche
Kirchenmänner, alle im Alter um die 30 herum, für mich prägend:
der bereits erwähnte Friedrich Franz
Wellingerhof, damals gängige Kurzbezeichnung P.W., der
als Landesjugendpastor für ganz Mecklenburg, aber besonders auch
im Stadtbereich Schwerin segensreich wirkt. - Sein Vater war
Diakon des Stephanstiftes Hannover und offenbar um 1912 herum
Hausvater der Herberge zur Heimat in der Hartestraße 21 in
Rostock, gleichzeitig mit dem dortigen Lesezimmer die erste
Seemannsmissionsstation in Rostock.
Von herausragender Bedeutung für mich als Leitbild ist Diakon
Gerhard Luckow, der Anfang der 50er Jahre das Amt des
Landesjugendwarts für Mecklenburg ausfüllt, später in Güstrow
ein Lehrlingsheim übernimmt, dann in Berlin für die Innere
Mission wirkt und zuletzt ein großes Heim für Behinderte in
Templin leitet. In einer Patengemeinde in Ostberlin, die ich
später von Soest aus betreue, wohnt auch Diakon Gerhard Luckow,
den ich in Berlin mit Monica zusammen auch einmal besuche. Er
arbeitet in den 60er Jahren in Ostberlin für das Diakonische
Werk. Jahrelang verwalte ich für ihn ein Westgeldkonto und
schicke ihm davon nach Wunsch und Bedarf Kleidung und
Haushaltsgeräte für seine große Familie. Später geht Luckow als
Leiter des Waldhofes, einer Behinderteneinrichtung der Diakonie,
nach Templin. Zu der Zeit habe ich aber kaum noch Kontakt zu
ihm.
Einige Monate nach seinem Tode schreibt mir seine Witwe Helga
aus Templin: "...
Es ist nun schon viele Monate her, seit wir meinen Mann auf dem
Friedhof des Waldhofes begruben. Sie wissen vielleicht, dass
mein Mann von 1971 bis zu seinem ersten Herzinfarkt im Jahre
1980 den Waldhof leitete, eine psychiatrische Pflege- und
Fördereinrichtung mit 200 Betten. Da Sie meinen Mann kannten,
können Sie sich sicher vorstellen, wie er diese Arbeit getan
hat: -Entweder Ihr gebt mir Geld und Möglichkeit zu bauen oder
Ihr macht das Haus zu!- So hieß es 1971. Es waren gute und
harte Jahre. Die Arbeit meines Mannes hat ihre Spuren
hinterlassen. In den letzten Jahren nach seiner Invalidisierung
hat er endlich das tun können, was ihm nie möglich war und ihm
doch so sehr am Herzen lag: Er konnte sich um den einzelnen
Heimbewohner kümmern, der zu ihm kam ......"
Zwei weitere Neinstedter
Diakone sind zu nennen: Eberhard Brösel, Stadtjugendwart für
Schwerin, der etwa 1952 plötzlich Hals über Kopf in den Westen
fliehen muss, nachdem er vier Monate lang wöchentlich im Arsenal
am Schweriner Pfaffenteich von Stasioffizieren verhört und
bedroht worden war. Er leitet in Südwestdeutschland zunächst
ein Heim für Fremdenlegionsflüchtlinge und arbeitet
jahrzehntelang im Schwarzwald führend in der christlichen
Jugenddorfbewegung, zuletzt 24 Jahre in Altensteig, wo der Vater
von 7 Kindern und Opa von 10 Enkeln jetzt seinen Ruhestand
verbringt. Er wird in Schwerin als Stadtjugendwart von Bernhard
Kränz abgelöst, der später als Gemeindediakon zu P.W. nach
Gnoien geht und darnach eine Pfarrstelle in dem kleinen Dorf
Lübsee zwischen Schönberg und Grevesmühlen übernimmt, wo ich ihn
in den 60er Jahren auch mal zusammen mit meiner Frau Monica
besuche.
Während der Rüstzeiten der
Dobbertiner Bruderschaft in Rostock-Gehlsdorf für Jungen, die
sich mit dem Gedanken tragen, einen kirchlichen Beruf zu
ergreifen, begegne ich das erstemal Gerhard Luckow, der mir als
Jugendlicher Identifikationsfigur wird, den ich später als
meinen geistlichen Vater betrachte und der den Wunsch in mir
wachsen lässt, selber Diakon zu
werden.
In Mühlen-Eichsen, einem
kleinen Dorf zwischen Grevesmühlen und Schwerin erlebe ich als
14jähriger "Knabe" in einer Gruppe Gleichaltriger einige Monate
nach meiner Konfirmation vom 29.7. bis 4.8.1949 eine Freizeit
unter Leitung Gerhard Luckows und seines Assistenten Hans Reinke
(Dobbertiner Bruderschaft) im Pfarrhaus des seinerzeit dort
amtierenden kinderreichen Pastors Hannes Lietz (später Propst in
Grevesmühlen). Die Freizeitlosung heißt: "Sieger müssen bei
Christus sein", nach dem Refrain des in dieser Freizeit
erlernten und immer wieder gesungenen Liedes "Heiß das Blut,
das die Adern durchrauscht, kalt der Wind, der das Fahnentuch
bauscht, heiß oder kalt, ja oder nein, niemals wollen wir
lauwarm sein. - Fest den Blick in das Dunkel gespannt. Fest das
Herz und die Nacht ist gebannt! Heiß oder kalt, ja oder nein!
Schlagt dem Teufel die Türe ein! - Halber Wille ist ganzer
Verzicht. Halbe Menschen gefallen Gott nicht. Heiß oder kalt,
ja oder nein! Sieger müssen bei Christus sein." Die Lieder
dieser Nachkriegs-Jugendbewegung sind oft schmissig und strotzen
von kämpferischen Begriffen. Oft werden sie im Marschrhythmus
gesungen. Und die Kanons! Immer und überall werden Kanons
gesungen, oft mit sehr schönen seelsorgerischen Texten und
herrlichen Melodien: "Und ob das Herz auch klagt, ausharr ich
unverzagt, wer Gottes Pfad gewagt, trägt still sein Kreuz",
"Selig sind, die reines Herzens sind; denn sie werden Gott
schauen" oder "Dona nobis pacem". Die Lieder, das gemeinsame
Singen, die Gemeinschaft bewirken mehr als alle Predigten und
Vorträge.
Wir schlafen auf dem
Heuboden des Pfarrhauses und halten im Gemeinderaum unsere
Bibelarbeiten, Singstunden und sonstigen Veranstaltungen ab.
Diese Begegnung mit einem engagierten Diakon ist für mich stark
prägend für meinen späteren Berufswunsch. Ein markantes
Ereignis dieser Woche ist für uns Halbstarke ein besonderes
Abenteuer und sollte für Luckow noch ein Nachspiel haben: Vom
damaligen Bischof Niklot Beste bekommt Luckow eine offizielle
disziplinarische "Zigarre", weil er am späten Abend des
31.7.1949 in der Dämmerung mit uns ins benachbarte, einige
Kilometer entfernte Dorf Cramon zieht, wo eine
Mädchenfreizeitgruppe ebenfalls in der Pfarrscheune auf Heu und
Stroh gerade im ersten Schlaf ruht. Mit einem schauerlichen
Geheul rund um die Scheune bringen wir die jungen Damen zu
mitternächtlicher Stunde nach Luckows Aktionsplan in größte
Angst und Panik. Die Mentalität der Zeit ist wohl noch stark
geprägt von Verhaltensmustern der romantischen Jugendbewegung
und auch noch von den rauen Sitten der gerade erst zu Ende
gegangenen Epoche der Hitlerjugend mit Sinn für derlei grobe
Scherze. Darauf gibt es seitens der Freizeitleitung der Mädchen
eine Beschwerde bei der Landeskirchenleitung und in Folge die
Zitierung Luckows zum Bischof.
In der Karwoche 1951 nehme ich vom 19. bis 24. März an einer
Rüstzeit in Toitenwinkel bei Rostock für Jugendliche teil, die
als Diakone, Katecheten oder sonst wie als Nicht-Volltheologen
hauptberuflich in den kirchlichen Dienst zu treten
beabsichtigen. Auch diese Freizeit wird von Diakon Gerhard
Luckow geleitet. Toitenwinkel ist zu der Zeit noch ein von
Gehlsdorf etwas entfernt liegendes einsames Dorf in weiter
Flur. Überseehafen und Autobahn gibt es noch nicht. An der
schönen alten gotischen Dorfkirche amtiert Pastor Bahr, der mit
einigen Vorträgen und Gesprächen aktiv an unserer Rüstzeit
teilnimmt, so über "Das 6. Gebot" und zum Thema "Warum
lutherisch?": sola fide: allein aus dem Glauben! - sola
scriptura: allein aus der Schrift! - nur die Kirche darf sich
lutherisch nennen, die sich alleine auf die Schrift stützt! -
sowie über "Apologetik" und "Mein Dienst als Pastor". Luckow
referiert zum Thema: "Mein Dienst als Diakon": Der angehende
Diakon hat drei Entscheidungen zu treffen: 1. Christus ja oder
nein, 2. den bisherigen Beruf aufgeben, 3. mit der Kirche als
menschlicher Institution fertig werden.
Luckow erzählt uns, wie er selber zu der Entscheidung kommt,
Diakon zu werden. Er war begeisterter deutscher Soldat mit
patriotischem Kampfgeist für den "Endsieg". Der Zusammenbruch
Deutschlands zerstörte alle seine Ideale und Hoffnungen. In der
Gefangenschaft erkrankte er lebensbedrohlich. In dieser
Situation betete er und legte ein Gelöbnis ab: "Lieber Gott,
wenn Du mich hier wieder lebendig herausbringst, will ich Dir
lebenslang dienen!" Als er sich später erkundigte, wie ein
solches Dienen wohl möglich sei, riet man ihm, Diakon zu
werden. So kam er nach Neinstedt und pflegte geistig
Behinderte. Diakonie sei wörtlich übersetzt: Dienen durch den
Staub, Sklavendienst. Er macht es uns an einem Beispiel klar,
das er erlebt hat: In Neinstedt sei eine Toilette verstopft
gewesen. Die stinkende Kloake habe darin bis zum Rand
gestanden. Er sollte sie wieder gangbar machen. Sein
Vorsteher, Pastor Knolle, habe von ihm verlangt, mit seinem Arm
bis zum Ellenbogen da hineinzugreifen, um die Verstopfung zu
beheben. Als er sich nach einigem inneren Widerstand dazu
durchgerungen habe, habe er gewusst, dass er allen Versuchungen
standgehalten habe, seinen Weg der Diakonie, den Dienst durch
Staub und Kot, aufzugeben. Dieses Beispiel wird mich selber
später in meiner eigenen Diakonenausbildung noch oft beflügeln,
Versuchungen im Dienst zu widerstehen. -
Weitere Themen: "Stegreifspiel", "Geschichte der Diakonie" an
drei Tagen: 1. Biblische Grundlagen, 2. Entwicklung des
Diakonenamtes in der Kirchengeschichte, 3. Diakonie in den
letzten 100 Jahren“. - Wir haben Diakonenschüler vom Michaelshof
zu Gast und wandern nach Gehlsdorf, um das dortige Werk der
Inneren Mission zu besichtigen. Die täglichen Bibelarbeiten
befassen sich mit Passionstexten des Johannes- (13, 1-17) und
des Lukasevangeliums, Kapitel 23.
Es ist Mitte Mai 1953. Ende Juni soll die Lehrabschlussprüfung
bei der Post stattfinden. Da kommt ein neues, nicht
eingeplantes Hindernis: Der Kirchenkampf spitzt sich zu. Die
evangelische Jugend innerhalb der DDR wird vom atheistischen
Staat als Feind betrachtet und soll ausgeschaltet werden.
Unsere Treffen, die stark bibelzentriert stattfinden, werden von
Stasileuten besucht und beschattet. Man will uns mürbe
machen. In der FDJ-Zeitung "Junge Welt", aber auch in der
"Ostsee-Zeitung" im Bezirk Rostock erscheinen Anfang Mai 1953
fast täglich Hetzartikel gegen die Junge Gemeinde, gegen
Pastoren und Hausväter diakonischer Einrichtungen.
In Nr. 106 der "Ostsee-Zeitung" vom 7. Mai 1953 hetzt man gegen
den Grevesmühlener Pastor Lietz. In dem Zeitungsartikel wird
die Junge Gemeinde als "Spionageorganisation" und "faschistische
Mordorganisation" bezeichnet. Auf derselben Seite dieser
Zeitung heißt es unter der Überschrift:
"Jugendliche wollen sich nicht
missbrauchen lassen:
Grevesmühlen. Immer mehr erkennen
die jungen Menschen, dass sie in der Spionageorganisation "Junge
Gemeinde" nichts zu suchen haben. So erklärt uns die
Oberschülerin Erika Beier: --Ich habe in der "Jungen Welt"
gelesen und erkläre hiermit, dass ich aus der Jungen Gemeinde
austrete.-- Die Jugendfreundin Christa Hecht bemerkt: --Ich bin
seit 1952 in der Jungen Gemeinde gewesen. Nachdem ich ihre
schändliche Arbeit zur Kenntnis genommen habe, erkläre ich
hiermit meinen Austritt aus der Jungen Gemeinde. Ähnlich
äußerten sich ..." Und so geht es weiter. Solche erpressten
Abwendungsbekenntnisse erscheinen fast täglich in den
DDR-Zeitungen. Auf dem flachen Lande und in den kleineren
Städten werden zuerst die christlichen Schüler aus den
Oberschulen verwiesen, soweit sie nicht bereit sind, sich
öffentlich von der Kirche loszusagen. Mein Freund Hans
Gottschalk ist bereits kurz vor dem Abitur aus der Oberschule
entlassen worden.
Noch hält sich die Betriebsleitung bei der Deutschen Post in
Schwerin zurück, doch bald wächst der Druck auf sie und unseren
Ausbildern bleibt keine Wahl: Man muss etwas gegen uns
unternehmen. Mehrere Kolleginnen und ich, von denen bekannt
ist, dass wir uns zur Jungen Gemeinde halten, werden am 13. Mai
in Anwesenheit der Ausbilder Hansen, Gerth und Meltz und des
Lehrlingsheimleiters Trulson zu einer Besprechung in den
Kulturraum des Postamtes zusammengerufen und aufgefordert, eine
Resolution zu unterschreiben, in der wir die Junge Gemeinde als
"Tarnorganisation der westlichen Imperialisten" erkennen und uns
verpflichten, "deren Machenschaften zu verabscheuen und zu
verurteilen". Solche Resolutionen aus Schulen und Betrieben
findet man ja zur Zeit fast täglich in den Zeitungen. Die
Kolleginnen bringt man alle dazu, zu unterschreiben. Ich
weigere mich.
Damit ist meine Zukunft besiegelt! Eine berufliche Zukunft bei
der Post gibt es nicht mehr. Die will ich ohnehin nicht, denn
für mich steht sowieso fest, dass ich Diakon werden will. Dafür
benötigte ich jedoch zuvor eine abgeschlossene
Berufsausbildung. Nach einer schweren Rippenfellentzündung
hatte ich mir eine Lymphdrüsentuberkulose zugezogen, gegen die
es in der DDR keine Medikamente gab. Aber mit meiner Erkrankung
ist mir auch die Diakonenausbildung verbaut. Für uns Christen
in der DDR gilt die Devise: Trotz Verfolgung durch die
staatlichen Organe: Ausharren! Keine Flucht in den Westen.
Aber welche Perspektiven habe ich in meinem Fall? Ich wollte
nach dem Abschluss der Lehre bei der Post nach Neinstedt im Harz
in die Diakonenausbildung gehen, aber die Neinstedter Anstalten
sind kurz zuvor verstaatlicht worden. Hinzu kommt, dass mir
bekannt geworden ist, dass im Westen die ersten
erfolgversprechenden Medikamente gegen die Tbc auf den Markt
gekommen sind.
Ich fahre sofort nach Grevesmühlen, um die Lage mit meinen
Eltern zu besprechen. Mein Vater ist empört. Er verlangt, dass
ich mich anpasse, unterschreibe. Er ist persönlicher
Kraftfahrer des Genossen Vorsitzenden des Rates des Kreises
(früher sagte man Landrat). Dieser hatte ihn ohnehin schon mit
der kritischen Bemerkung konfrontiert, es sei für einen
Parteigenossen ehrenrührig, einen "Kugelkreuzler" als Sohn zu
haben. "Ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen." Das
Familienklima ist gespannt. Mutter rät mir zu, in den Westen zu
gehen. Ich habe innerhalb weniger Stunden einen inneren Kampf
auszufechten.
Am frühen Morgen des 14. Mai 1953 steige ich mit nur einer
Aktentasche als unauffälliges Gepäck in Grevesmühlen in den Zug,
um auf dem Umweg über Neubrandenburg nach Berlin zu fahren. Die
Zonengrenze ist undurchlässig. Nur das Schlupfloch Berlin ist
noch geblieben. Dort kann man noch ungehindert mit der S-Bahn
oder zu Fuß die Sektorengrenze überqueren. Aber rings um
Groß-Berlin herum hat die Volkspolizei einen Kontrollring
gelegt. Viele fluchtverdächtige Reisende werden aus den Zügen
geholt und nach Verhören zurückgeschickt. Falls es in meinem
Falle zu einer Kontrolle kommen sollte, will ich zu einer
Familienfeier, einer "Silberhochzeit" zu Verwandten, zur Tante
Toni Seth, in Berlin-Treptow. Ein "Geschenk" habe ich in der
Aktentasche, sonst nur Wasch- und Rasierzeug, nichts was auf
eine Flucht hindeuten könnte.
Ich komme aber ungehindert nach Berlin hinein und mit
Herzklopfen mit der S-Bahn auch in den Westsektor. Hier begebe
ich mich nach Tempelhof, wo seit Jahren Ulla Schiele, geborene
Feilke, mit ihrem Mann wohnt. Dort bleibe ich die erste Nacht.
Am nächsten Morgen suche ich die kirchliche Beratungsstelle für
junge Flüchtlinge aus der DDR auf, deren Adresse ich im Kopf
habe. Ich werde aufgefordert, mir mein Vorhaben doch noch
einmal gründlich zu überlegen, es könnten doch nicht alle
weglaufen, was solle dann aus der Kirche in der DDR werden.
Dafür hatte ich die Reise nach Berlin nun doch nicht auf mich
genommen. Ich habe mich fest entschieden und bin mir meiner
Sache sicher. So nennt man mir die Anschrift der
Kontaktbehörde. In diesen Wochen und Monaten kommen täglich
tausend oder gar mehrere tausend Menschen über Berlin in den
Westen. Ein großer Exodus blutet die DDR aus, bis Ulbricht am
13. August 1961 die Mauer bauen lässt. Auf dem Messegelände am
Funkturm sind in den großen Ausstellungshallen riesige
Auffangbüros eingerichtet worden. Ich kenne das Gelände noch
vom Kirchentag in Berlin 1951 her. Vor zwei Jahren war ich hier
gewesen. So beantrage ich nun die "Notaufnahme". Ich bekomme
einen "Laufzettel". Es beginnt das Stempelsammeln: einer vom
amerikanischen Dienst, der nächste vom britischen, der dritte
vom französischen, der vierte von einer ärztlichen
Dienststelle. Ich werde Inhaber eines Gesundheitspasses für
Flüchtlinge. Die ärztliche Untersuchung ist gründlich und
bewirkt sofort, dass ich in ein Krankenhaus nach Tegel
eingewiesen werde.
Während meines Aufenthaltes in Berlin werden in der DDR
plötzlich die straff angezogenen Zügel wieder gelockert: Der
"Neue Kurs" wird eingeläutet, gemäß dem Motto: Vom großen Bruder
lernen. So etwas gab es in den zwanziger Jahren auch bereits
einmal in der Sowjetunion: Die NEP, die "Neue Ökonomische
Politik". Die Verfolgung der Kirche wird abgeblasen, einige
Maßnahmen rückgängig gemacht. Die von den Oberschulen
verwiesenen christlichen Abiturienten können ihr Abitur
nachholen. War also meine Flucht umsonst? Im Hinblick auf
meine Heilungschancen durch die neuen Medikamente im Westen war
mein Entschluss der einzig richtige. So bleibe ich, bekomme
einen provisorischen Personalausweis der Stadt Berlin und werde
am 13. Juni 1953 mit anderen jungen Flüchtlingen von Berlin nach
Hannover "ausgeflogen" und am selben Tage per Autobus in das
Durchgangslager Sandbostel gebracht.