Zeitzeugen-Bericht von Joachim Puttkammer
Wie ich zur
Jungen Gemeinde gekommen bin, weiß ich nicht mehr genau. Wenn
ich mich recht erinnere, hatten Georg Möller und ich in einem
Gottesdienst davon gehört und waren einfach zur "Oase" in der
Schweriner Apothekerstraße 48 gegangen.
Wir machten
dort Spiele, sangen wilde Lieder wie das Kannibalenlied oder das
Kolumbuslied, aber natürlich auch christliche Jugendlieder wie
"Heiß das Blut, das die Adern durchrauscht, kalt der Wind, der
das Fahnentuch bauscht, heiß oder kalt, ja oder nein, niemals
dürfen wir lauwarm sein". Das klingt mir heute sehr nach
Nationalsozialismus.
Wir hörten
Hörspiele wie "Der Teufel fährt dritter Klasse", sahen von PW
gedrehte Schmal-Spielfilme ohne Ton wie das "Geheimnis des Otto"
oder waren einfach als Jungen zusammen. Das war noch zu einer
Zeit, als wir uns überhaupt noch nicht für Mädchen
interessierten, als ein christlicher Junge auch nichts damit zu
tun haben wollte und selbstverständlich auch nicht rauchte oder
etwas Alkoholisches trank. Wir tranken damals am liebsten rote
Brause, die machte stark.
Das Tollste in
der Jungen Gemeinde waren die Freizeiten. Ich fuhr einmal in
einer Gruppe mit dem Motorboot, dem "Otto", über den Schweriner
See durch den Störkanal und die Elde bis zum Plauer See. Abends
machten wir Lagerfeuer am Ufer und sangen wilde Lieder wie
"Unrasiert und fern der Heimat". Dabei hielten wir an langen
Stöcken Bockwürste ins Feuer; später verbrannten wir uns an
ihnen die Zunge. Bei den oft gleichaltrigen Leitern dieser
Gruppen war einer, Michel, der leidenschaftlich gern Bockwurst
aß. Wenn es also diese Delikatessen zu Mittag gab, erzählte er
uns, daß da alles Fleisch hineingestopft würde, was eigentlich
nicht mehr gut sei und weggeworfen werden müßte. Da werde es
überbrüht, stark gewürzt und dann in die Därme hineingestopft.
Bei solchen Reden verging vielen Jungen der Appetit, und sie
schoben die Würstchen auf die Seite. Der Junge aber rannte zu
ihnen hin, nahm ihre Würstchen auf seinen Teller, jauchzte: "Ich
opfere mich für euch" und schlang meist mehr als zehn Bockwürste
herunter. Allerdings hatten seine Reden jedesmal weniger Effekt;
denn selbst der zartestbesaitete Junge merkte bald die Absicht
hinter den Reden.
Dieses Stück
Zusammenhalt in der Jungen Gemeinde war es, das uns so gut
gefiel. Das war es auch, was uns zur Jagdhütte beim Dorf Zapel
in der Nähe von Crivitz radeln ließ. Das war ein altes Waldhaus,
über dessen Eingangstür ein bemooster Rinderschädel hing,
einigermaßen erschrecklich für alle Neuankömmlinge. Wir
richteten unsere Doppelstockbetten her und stellten den
Ultrakurzwellenkocher auf - das war ein zusammenklappbarer
Blechherd. Er klappte zuweilen auch mitten beim Kochen zusammen.
Ich erlebte das einmal, als ich für das Mittagessen
verantwortlich war. Ich hatte Katoffeln mit Gemüse im Topf und
dazu gewürfelte Bockwürste. Beim Heizen stieß ich aber mit einem
Holzscheit irgendwo so unglücklich an, daß der Herd
zusammenklappte und das ganze Essen auf den Waldboden mit
Kiefernnadeln auskippte. Die Zeit war knapp, die Jungen wollten
bald essen. Mit einer Schaumkelle füllte ich also alles Feste in
den Topf, goß Wasser auf und schöpfte dann mit der Kelle die
schwimmenden Kiefernnadeln und ein paar Kienäppel ab. Das Essen
schmeckte den Jungen großartig. Mir auch.
Damals war es
augenscheinlich noch möglich, daß wir auf dem Waldboden den Herd
aufstellen konnten. Heute wäre das natürlich aus
Brandschutzgründen undenkbar, ebenso wie heute kaum der
Donnerbalken möglich wäre. Der Donnerbalken war ein Balken, der
über zwei Gabeln in Sitzhöhe lag. Unmittelbar dahinter begann
eine Grube. Das war unsere Toilette. Da konnten bis zu fünf
Jungen nebeneinander sitzen und ihre Verdauungsprodukte ablassen
- und dabei natürlich donnern. Bei Erbseneintopf war das kein
Problem. Erbsen gab es oft und viel. Bohnen auch. Es wurde da
nicht nur gedonnert, sondern auch erzählt und gesungen. War die
Freizeit beendet, streuten wir etwas Chlorpulver drüber und
deckten mit Erde ab.
Der
Donnerbalken spielte auch bei der Lagertaufe einmal eine
wichtige Rolle. Das war aber bei einer Freizeit mit Zelten. Die
Lagertaufe gehörte untrennbar zu den Freizeiten, wie die
Äquatortaufe bei der Überquerung des Äquators. Sie war so etwas
wie eine Mutprobe für die, die zum erstenmal in solch Zeltleben
gekommen waren, vorallem aber ein herrlicher Jux. Wer sich also
dieser Lagertaufe unterziehen mußte, hatte in Badehosen durch
hohe und dichte Brennesseln zu robben, dann an Masten oder
Bäumen hochzuklettern und schließlich auf einem losen Balken
über ein Gewässer zu balancieren. Außerdem mußte er bestimmte
Fragen richtig beantworten, etwa, wieviel Jahre das Volk Israel
in der Wüste herumlief, bis es ins gelobte Land kam, oder wer
älter war, Jakob oder Esau. Die Taufe wurde dann so vollzogen,
daß der Junge mit einem scheußlichen Gemisch von Abwaschwasser,
Kaffeegrund und Bino übergossen wurde. Wir fanden das alles
wunderschön und sprangen hinterher ins Wasser, um das Ganze
abzuspülen, auch um die Blasen zu kühlen, die uns die
Brennesseln verursacht hatten. Am Abend wurde uns dann bei der
Andacht feierlich eine Taufurkunde überreicht.
Aus irgendeinem
Grund, den ich heute nicht mehr weiß, weigerte sich ein Junge,
über den rollenden Balken über das Gewässer zu balancieren. Am
Abend aber wollte er auch die Urkunde haben. Jetzt wurde
allerdings die Bedingung verschärft: Er hatte auf einem losen
Balken über die Grube des Donnerbalkens zu balancieren. Der
Junge zog sich hohe Schuhe an, aus Sicherheitsgründen, falls er
hineinfallen sollte, und ging los. Er wäre heil angekommen, aber
Arvid Schnauer drehte am Balken, als der Junge auf der Mitte
war, und so fiel er in die Grube. Dabei war der Schlamm sehr
viel tiefer als die hohen Schuhe, und der Junge mußte die ganze
Nacht die Füße außerhalb des Zeltes halten, sonst wäre der
Geruch nicht zu ertragen gewesen. Seiner Gesundheit hat es
nichts geschadet.
Einmal im Monat
versammelten wir uns im Chorraum des Schweriner Domes, an der
Rückseite des Schnitzaltares, zur Monatsrüste. Wer sich eine
bestimmte Zeit zur Jungen Gemeinde gehalten hatte, bekam dann
von Landesjugendpastor Wellingerhof - PW - das Kugelkreuz der
Jungen Gemeinde. Das Material des Kreuzes auf der Weltkugel war
wohl eine Legierung, die neu strahlend silbrig glänzte, mit
zunehmendem Alter aber stumpfer wurde und schließlich warmgolden
glänzte.
Daraus war von
staatlicher Seite im Jahre 1953 die Theorie gebastelt worden, es
gebe in der Jungen Gemeinde Rangunterschiede. Die mit dem
silbernen Kugelkreuz seien Soldaten, die mit dem stumpfsilbrigen
Abzeichen seien Unteroffiziere und die mit dem goldenen Zeichen
seien Offiziere. Nach Meinung der staatlichen Stellen damals war
ja die Junge Gemeinde eine Armee im Dienste des Klassenfeindes,
die es sich zum Ziel gesetzt hatte, eine Revolution im Lande zu
organisieren und die DDR in die Hände des Klassenfeindes zu
spielen. So konnte man es damals im Leitartikel der Freien
Deutschen Jugend "Junge Welt" lesen. Vor ein paar Tagen fand ich
eine solche Zeitung beim Aufräumen. Deshalb wurden alle
bekennenden Glieder der Jungen Gemeinde von der Oberschule
geworfen, zum Teil auch ins Gefängnis gesteckt.
Als ich das
Kugelkreuz von PW bekam, gab es solche Verfolgung wie 1953 nicht
mehr. Da ich aber nicht zur FDJ gehörte und meine Schulklasse
zum 1.Mai im Blauhemd an der Tribüne vor dem Museum auf dem
Alten Garten vorbeimarschierte, durfte ich nicht bei meiner
Klasse sein. Da ich das Marschieren haßte und ich diesem ewigen
Warten und wieder zehn-Meter-weiter-Marschieren und wieder
Warten in oft glühender Hitze oder Regen sowieso nichts
abgewinnen konnte, störte mich das nicht weiter. Nur um meinen
Klassenlehrer Heinz Bremer zu ärgern, der jede Gelegenheit
nutzte, mich als Christ zu verspotten, marschierte ich in einer
Sportgruppe mit. Damals hatte ich gerade meine Prüfung als
Rettungsschwimmer gemacht und hätte da mitkommen können.
Zugleich aber gehörte ich zu einem Tennisklub. Also zog ich mein
weißes Zeug an, nahm den Tennisschläger in die Hand und zog los
zum Alten Garten. Georg Möller ging mit mir, damals mein Freund
und Glied der Jungen Gemeinde wie ich. Später wurde er in
Rostock Dozent für Marxismus-Leninismus, ausgerechnet er. Noch
heute sehe ich das wütende und verschwitzte Gesicht von meinem
Klassenlehrer, als ich mit meiner Tennisgruppe "Einheit" vor den
Schulklassen vorbeizog, völlig frisch, weil ich ja nicht so
lange hatte warten müssen wie sie. Wir machten nicht so viel
Eindruck wie die Ruderer von "Dynamo", dem Sportclub der
Polizei, die im Stechschritt an der Tribüne vorbeizogen - der
Sprecher am Mikrofon berichtete davon so begeistert, daß seine
Stimme überschnappte - aber das Weiß der Tennisspieler war immer
wieder schön.
Die Junge
Gemeinde war für uns das Stück Freiheit und die Gemeinschaft,
die wir brauchten. Seltsam erscheint mir oft, wie prägend die
Junge Gemeinde in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
für viele von uns war.
Viele ältere
Pastoren wurden durch die Junge Gemeinde auf den Weg gebracht,
Theologie zu studieren und in den Dienst der Landeskirche zu
gehen, auch ich.
Andere sagen
von sich, diese Zeit habe sie maßgeblich geprägt, auch wenn sie
später zur Kirche auf Distanz gingen.
Ich denke da an
den Grafiker und Eulenspiegel-Mitarbeiter Peter Muzeniek, der
damals mit seinen Grafiken zum Gelingen von Großveranstaltungen
der Jungen Gemeinde im Wichernsaal wesentlich beitrug, der
Illustrationen zu den hektografierten Mitarbeiterheften lieferte
und das Buch "Aus der Kirche geplaudert" von Joachim Schöne für
die Evangelische Verlagsanstalt Berlin illustrierte.
Ich denke an
meinen ehemaligen Freund Georg Möller, mit dem ich bereits vor
unserer Konfirmation in die "Oase" ging. Nach der Konfirmation
blieben wir weiter dort, und bei einer der Monatsrüsten wurde
uns im Dom von PW das Zeichen der Jungen Gemeinde angesteckt. PW,
das war Friedrich-Franz Wellingerhof, Landesjugendpastor von
1946-56, später dann Pastor an St. Paul Schwerin und danach
Landessuperintendent - eine Legende in Mecklenburg. Georg Möller
war später Dozent für Marxismus-Leninismus an der Rostocker
Universität, verstand sich -vielleicht in Erinnerung an seine
Zeit in der "Oase"- aber nie als antikirchlicher Propagandist.
Und ich denke
an meinen alten Freund Günther Brechot, von dem ich bis heute
Christusdarstellungen besitze. Auch wir gingen zusammen in die
Junge Gemeinde, schon vor unserer Konfirmation. Er trat aus der
Kirche aus, als er mit seiner Dozentur in Heiligendamm in die
SED genommen wurde, stand der Kirche aber stets freundlich
gegenüber.
PW hatte einen
ganz klaren Standpunkt für christliches Leben. Ein junger Christ
raucht nicht. Ein christlicher Junge treibt sich nicht mit
Mädchen rum. Ein Christ bekennt sich ganz klar zu seinem
Glauben. Wer zu PW stand, stand auch zu diesen Regeln. Denn PW
begegnete uns offen und freundlich, aber stets blieb bei uns
eine bestimmte Respekt-Distanz.
Das
Unmittelbare wurde unter uns geregelt. Die etwas Älteren in der
Jungen Gemeinde betreuten die Jüngeren. Bereits mit 15 Jahren
leitete ich zusammen mit einem ein Jahr Älteren eine Rüstzeit an
einem Wochenende in der Jagdhütte in Zapel. Das taten andere
auch. Da gab es keinerlei Disziplinschwierigkeiten.
Heute gibt es
das Wort "Rüstzeiten" kaum noch, weil es so militant klingt. Es
wird heute meist mit "Freizeit" übersetzt. Aber es war keine
Freizeit. Wir brauchten ein Rüstzeug, um gegen die antireligiöse
Propaganda jener Zeit und natürlich auch gegen das eigene Ego in
uns angehen zu können. Das Wort kommt ja vom Apostel Paulus, der
uns ermunterte, den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen und dann
im Bild eines Soldaten jener Zeit aufzählt, wie Glaube in dieser
Welt hilft zurechtzukommen. Dazu bedarf es nicht nur der Bibel,
sondern auch aller anderer Medien.
Wellingerhof
bediente sich dieser Medien. Da fällt mir zuerst sein Stück "Die
andere Stimme" ein, das im Wichernsaal ein paar Mal aufgeführt
wurde. Da hat ein Ingenieur ein Gerät erfunden, mit dem man die
Gedanken der Menschen hörbar machen und speichern kann. Ein
Professor in einer Nervenklinik, der an das Gute im Menschen
glaubt, bedient sich dieses Gerätes und erkennt, daß ihn alle
Menschen belügen. Er muß aber auch erkennen, daß er selbst lügt
und deshalb auf die Gnade Christi angewiesen ist. Dieses Stück
mit seiner Mischung von abgrundtiefem Ernst und Heiterkeit hat
auf mich so gewirkt, daß ich es seit 1962 in fünf verschiedenen,
weil aktualisierten Fassungen in Leipzig, Greifswald und anderen
Orten inszeniert habe.
Oder ich denke
an "Draußen vor der Tür" von Wolfgang Borchert in der
Hörspielfassung. Da wird Gott nach dem Grauen des zweiten
Weltkrieges als kraftloser alter Mann dargestellt. Wochenlang
diskutierten wir darüber, was Gott denn nun sei.
Und dann hatte
PW mit Schmalfilm einen richtigen Film gemacht: "Das Geheimnis
des Otto" und sich da eine Menge einfallen lassen. In diesem
Film wollte ein Junge mit einem Mädchen anbandeln, aber die
anderen Jungen paßten auf und gossen einen Eimer kalten Wassers
über die beiden. So radikal war man damals.
Glaube war
nicht nur Gottesdienst und Bibelarbeit, war keine Freizeitnische
in unserem Leben, Glaube nahm jede Erscheinung dieser Welt
hinein, auch wenn wir bestimmte Dinge ablehnten, weil sie
unserem Glauben schadeten. Gott war für alle Dinge unseres
Lebens zuständig, ob wir im Dom zur Monatsrüste zusammenkamen,
uns im Kreis die Hand reichten und auswendig sangen "Herr, wir
stehen Hand in Hand" oder ob wir in der Jagdhütte in Zapel
wohnten und Schnitzeljagd machten, ob wir mit dem Motorboot
"Otto" vom Schweriner See durch die Kanäle und Flüsse bis zum
Müritz-See fuhren oder ob wir mit Andersdenkenden über unseren
Glauben sprachen.
PW prägte
unseren Glauben. Er prägte unsere Sicht der Welt. Ein Stück
unseres Charakters wurde von ihm geformt. Jugendliche brauchen
solche Menschen wie ihn. |